Digitale Krebsnarrative im Internet
Arnulf Deppermann und Isabell Neise, IDS
Seit dem zweiten Weltkrieg wurde der öffentliche Umgang mit Krankheit und Sterben tabuisiert, an den Rand der Gesellschaft gedrängt und aus der öffentlichen Kommunikation verbannt (vgl. Feldmann 2004). In den letzten Jahren finden die Themen Krankheit und Sterben jedoch vermehrt wieder Eingang in öffentliche Diskurse.
Prominente Vertreter*innen, die ihre Erkrankung und die Auseinandersetzung mit dem Sterben öffentlich verarbeitet haben, sind beispielsweise der Regisseur Christof Schlingensief, der in einer Vielzahl von Theateraufführungen und in einem autobiographischen Roman „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein: Tagebuch einer Krebserkrankung“ (2009) seine Krankheit und die Konfrontation mit dem potenziellen Tod veröffentlichte. Ebenso das bekannte Blog des Autors Wolfgang Herrndorf „Arbeit & Struktur“1, das dem Autor zur künstlerischen Auseinandersetzung und Bewältigung mit seiner Krebserkrankung diente sowie das gleichnamige Buch (2013).
Neben Prominenten sprechen vermehrt auch Privatpersonen über ihre Krankheit im Internet. Ein Beispiel, das in den USA die Diskussion um den Sterbehilfediskurs 2014 erneut entfachte, sind die Videobotschaften der Psychologin Brittany Maynard.2 Mit 29 Jahren erkrankte sie an einem unheilbarem Hirntumor und kündigte am 6.10.2014 via people.com an, dass sie von der im US-Bundesstaat Oregon zu diesem Zeitpunkt bereits vorhandenen Möglichkeit der Sterbehilfe Gebrauch machen werde. Das Video erreichte binnen weniger Tage über 4 Millionen Views auf people.com und wurde es insgesamt über 30 Millionen Mal angesehen. Maynards Videobotschaften lösten in den USA eine neue Diskussion rund um den Sterbehilfe Diskurs aus, denn zu diesem Zeitpunkt war Sterbehilfe nur in vier US-Bundestaaten erlaubt. Ein Jahr nach Brittany Maynards Tod erreichte die durch das Video entfachte Diskussion mit der Verabschiedung eines Gesetztes ihren Höhepunkt, das Sterbehilfe in 22 weiteren US-Bundestaaten ermöglichte.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass im Internet öffentlich verbreitete Erzählungen von Tod, Krankheit und Sterben sowohl politische als auch gesellschaftliche Wirksamkeit erreichen können. Das ist darauf zurückzuführen, dass reale Person ihre eigene Geschichte öffentlich wiedergeben, dadurch Stellung beziehen und eine moralische Position einnehmen, wodurch ihre Geschichte für andere nachvollziehbar und die Darstellung der eigenen Erfahrungen beglaubigt wird. Die persönliche Geschichte erhält dadurch ein Gesicht (vgl. Rorty 1991).
Öffentliche Darstellungen von Krankheit und Sterben im Internet stammen zumeist von jungen Krebspatient*innen, die lange „vor der Zeit“ der normalen Lebenserwartung (Frauen: 83 Jahre; Männer 78 Jahre3) an Krebs erkranken und mit dem potentiellen Tod konfrontiert sind. Typische Gattungen, in denen Patient*innen über ihre Erkrankung im Internet sprechen, sind:
1. Reportagen und Dokumentationen,
2. Interviews und filmische Selbstdarstellungen,
3. und diverse Social Media-Formate wie Blogs, Vlogs, Instagram-Posts, Tweets und Facebook-Einträge.
Wir finden eine Vielzahl autobiographischer Erzählformate (Erzählung aus der Perspektive des selbst Erlebten; vgl. Genette et al. 2010; Martínez/Scheffel 2016). Solche Erzählungen enthalten häufig präsentische Darstellungen von Gedanken und Emotionen, Befindlichkeitsupdates und Berichte über den Therapieverlauf. In unserem Projekt Krebs@Internet interessieren uns Social Media Formate (Vlogs, Instagram-Posts und Tweets), in denen digitale Krebsnarrative erzählt werden (vgl. Stage 2017). Digitale Krebsnarrative haben wenigstens drei wichtige soziale Funktionen:
- Sie werden genutzt um sich selbst zu präsentieren und dabei die Krankheit narrativ zu bewältigen (vgl. Scheidt et al. 2014).
- Im Gegensatz zu narrativen Interviews oder Tagebucheinträgen eröffnet die Auseinandersetzung mit der Krankheit und dem potenziellen Tod vor einem dispersen, öffentlichen, massenmedialen Publikum insbesondere in sozialen Netzwerken Möglichkeiten der Partizipation vieler und eine nachfolgende Aushandlung in der Anschlusskommunikation (z.B. durch Kommentare im Anschluss an ein Posting; vgl. Androutsopoulos 2016, S. 344). Das Internet fungiert so als sozialer Raum mit Möglichkeiten der Vergemeinschaftung. Es entstehen neue Formen sozialer Beziehungen, die von den Betroffenen selbst als bereichernd empfunden werden und zur Bewältigung des Erlebten beitragen können. Betroffene berichten immer wieder, dass sie sich durch den Austausch mit der Community weniger allein fühlen.
- Digitale Krebsnarrative tragen zur Enttabuisierung und Entstigmatisierung (Tod) Kranker bei. Durch die Veröffentlichung privater und intimer Inhalte im öffentlichen Raum des Internets schaffen sie awareness. Eine breite Masse kann so über Krankheits- und Sterbeprozesse informiert werden, wodurch Krankheit und Sterben entdämonisiert und zurück in den lebensweltlichen Diskurs geführt werden.
Unser Projekts möchte zunächst klären, welche Möglichkeiten und Einschränkungen verschiedene Plattformen (z.B. YouTube, Instagram, Twitter) für die Kommunikation über die Krankheit bieten. Uns interessiert, welche multimodalen Gattungen der Kommunikation über Krebserkrankungen entstehen und welche spezifischen Potenziale sie für die Darstellung und Bewältigung von Leidenserfahrung bieten. Während YouTube beispielsweise audio-visuelle Erzählungen in der Form von Video-, Ton- und Bildschnitten ermöglicht, weisen Instagram-Posts Fotos in Kombination mit Bildunterschriften auf, während auf Twitter vor allem schriftliche Posts verfasst werden, die selten bebildert werden. Weiterhin interessiert uns, wie sich die Betroffenen als Erkrankte/Sterbende präsentieren und wie diese Präsentation des erkrankten Selbst in der Anschlusskommunikation ausgehandelt wird. Häufig finden wir beispielsweise die Selbstpräsentation als Kämpfer*innen, aber auch sensible Seiten und Ängste werden öffentlich diskutiert. Darüber hinaus interessiert uns, welche neuen Formen sozialer Gemeinschaften im Kontext der öffentlichen Darstellung von Krebserkrankung im Netz entstehen. Sind diese vor allem unterstützend? Oder spielen auch Hasskommentare (vgl. Marx 2017) und Shitstorms (vgl. Marx 2019) eine Rolle wie in anderen Social Media Kontexten? Und zuletzt stellt sich die Frage nach den persönlichen Gründen und der Relevanz der öffentlichen Darstellung der eigenen Krankheit für die Krankheitsbewältigung und Identitätskonstruktion von Krebspatient*innen.
1 Vgl. https://www.wolfgang-herrndorf.de (zuletzt abgerufen am 08.12.2020).
2 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=yPfe3rCcUeQ, https://people.com/celebrity/terminally-ill-woman-brittany-maynard-has-ended-her-own-life/ (zuletzt abgerufen am 08.12.2020).
3 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/_inhalt.html (zuletzt abgerufen am 08.12.2020).
Bibliographie:
Androutsopoulos, Jannis (2016): Mediatisierte Praktiken: Zur Rekontextualisierung von Anschlusskommunikation in den Sozialen Medien. In: Deppermann, Arnulf/Feilke, Helmuth/Linke, Angelika (Hg.): Sprachliche und kommunikative Praktiken. Berlin, Boston: De Gruyter, S. 337-338.
Genette, Gérard et al. (2010): Die Erzählung. 3., durchges. und korrigierte Aufl. Paderborn: Fink. (= UTB ; 8083 : Literatur- und Sprachwissenschaft).
Herrndorf, Wolfgang (2013): Arbeit und Struktur. Rowohlt Verlag GmbH.
Hydén, Lars-Christer (1997): Illness and narrative. In: Sociology of Health & Illness 19, S. 48–69.
Martínez, Matías/Scheffel, Michael (2016): Einführung in die Erzähltheorie. C.H.Beck.
Marx, Konstanze (2017): Rekontextualisierung von Hate Speech als Aneignungs- und Positionierungsverfahren in Sozialen Medien. In: Schiewe, Jürgen/Wengeler, Martin (Hg.): Aptum. Themenheft: Hate Speech/Hassreden. Bremen: Hempen Verlag, S. 132-147.
Marx, Konstanze (2019): Von Schafen im Wolfspelz. Shitstorms als Symptome einer medialen Emotionskultur. In: Hauser, Steffen/Luginbühl, Martin/Tienken, Susanne (Hg.): Mediale Emotionskulturen. Bern: Peter Lang, S. 135-153.
Rorty, Richard (1991): Essays on Heidegger and Others: Philosophical Papers. Cambridge University Press.
Scheidt, Carl Eduard et al. (2014): Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust. Schattauer Verlag.
Schlingensief, Christoph (2009): So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung. Kiepenheuer & Witsch.
Stage, Carsten (2017): Networked Cancer: Affect, Narrative and Measurement. Springer.