Partizipation
Andreas Baur und Solange Martinez Demarco, IZEW
Einleitung
Partizipation ist der Akt, an etwas teilzunehmen oder sich an etwas zu beteiligen (z.B. an einem Ereignis, einer Aktivität, einer Diskussion, einer Entscheidung oder ähnlichem). Diese abstrakte Definition erfordert als solche ein Adjektiv, um das Umfeld zu spezifizieren, in dem Partizipation erwartet, gefördert oder untersucht wird. Wie zum Beispiel: „soziale Partizipation“, „wirtschaftliche Partizipation“ oder „politische Partizipation“. In den letzten zwanzig Jahren wurde der Begriff vor allem aufgrund einer Legitimationskrise traditioneller Formen von Expertise und Autorität und der damit verbundenen Hinwendung zu pluralistischeren und demokratischeren Entscheidungsprozessen in einer Vielzahl von Bereichen verwendet (Newman & Clarke 2018; Barnes, Newman & Sullivan 2007). In diesem Sinne besteht die Hauptidee des Konzepts darin, eine ausgewogenere Verteilung von Macht zu erreichen, die sich im Ergebnis eines Prozesses widerspiegelt (Pateman 1970). Einige Voraussetzungen müssen erfüllt sein, dass ein substanzieller Einfluss auf das Ergebnis eines Prozesses möglich ist: Zugang zu Informationen, um die Interessen der Teilnehmenden besser zu erkennen, zu verstehen und zu unterstützen, Teilhabemöglichkeiten im Prozess, sowie aktives und sinnvolles Engagement.
In modernen Gesellschaften wird soziale Interaktion und auch Partizipation oft durch Informationstechnologien (IT) vermittelt. Die Förderung der Beteiligung an persönlichen und öffentlichen Entscheidungen ist für eine vielfältige demokratische Gesellschaft unerlässlich und muss für alle Menschen möglich und barrierefrei zugänglich sein. Partizipation ist keine Garantie für eine gute und demokratische Gesellschaft, aber ohne Partizipation gibt es keine Demokratie. In diesem kurzen Spotlight-Text werden wir uns den positiven Aspekten des Konzepts der Partizipation aus zwei Perspektiven nähern, die durch unsere Forschungsprojekte inspiriert wurden. So werden wir Partizipation in und mithilfe von Infrastruktur sowie die Partizipation auf kollektiver Ebene diskutieren: Erstens betrachten wir die Grundlagen der Partizipation bei der Gestaltung von und durch technologische Infrastrukturen. Zweitens stellen wir einige der Barrieren für eine sinnvolle Partizipation von Frauen und Minderheitengruppen in der Technik vor.
Indem wir diese Perspektiven diskutieren, zeigen wir, dass Partizipation nicht nur relevant, sondern auch in fast jedem Unterfangen, das sich mit der Gestaltung und Nutzung von Technologien in demokratischen Gesellschaften befasst, notwendig ist.
Partizipation an und mithilfe von Infrastrukturen
Nicht nur die Gestaltung von Software, IT-Angeboten und ihren Oberflächen ist für das Ermöglichen von Partizipation relevant, sondern auch die zugrunde liegenden technologischen Infrastrukturen. Dazu gehören auch der Aufbau des Internets als Ganzes, sowie dessen Netzwerke, Formen des Cloud Computing, der Aufbau von Rechenzentren und vieles mehr. Infrastrukturen und Partizipation haben aufeinander Einfluss in mindestens zweierlei Hinsicht:
Zum einen beeinflussen IT-Infrastrukturen und ihre Ausgestaltung, ihre Verfügbarkeit und Zugänglichkeit, wer sie auf welche Weise nutzen kann. Das einfachste Beispiel wäre ein Haushalt ohne schnellen Internetzugang, aufgrund dessen die darin lebenden Menschen von sozialen Kontakten, Bildung, Unternehmensangeboten, Gesundheitsversorgung und kulturellen Aktivitäten trennt. Aber nicht immer ist es derart offensichtlich, wie Infrastrukturen die Möglichkeiten zur Teilhabe beeinflussen. Oft sind diese Zusammenhänge deutlich subtiler, aber dennoch wirkungsmächtig Da wäre zum Beispiel die Infragestellung und Torpedierung der Idee der Netzneutralität und damit einhergehend die Versuche, verschiedene Arten von Internetverkehr unterschiedlich zu behandeln und bestimmte Datenverkehre gegenüber anderen zu privilegieren. IT-Infrastrukturen können sich also positiv, aber auch hindernd auf die Möglichkeit der Teilhabe auswirken, sei es in der Gesellschaft, in der Politik, in der Wirtschaft oder in anderen Bereichen.
Zum anderen sollten wir Partizipation nicht nur als eine positive Folge der Nutzung von IT-Infrastrukturen betrachten, die diese Teilhabe ermöglichen; sondern auch als zentralen Teil in der Entwicklung von IT-Infrastrukturen selbst. Da IT-Infrastrukturen eine fundamentale Rolle für unsere Gesellschaften spielen, sind inklusives Design, Nicht-Diskriminierung und Barrierefreiheit auch von einem normativen Standpunkt aus entscheidend. „Partizipatives Design" ist eine Idee und ein Forschungsstrang, der darauf abzielt, alle Beteiligten in die Gestaltung und Entwicklung von Technologien einzubeziehen (für einen Überblick: Simonsen/Robertson 2013). Dieser Ansatz folgt der Überzeugung, dass die Einbeziehung von Nutzer_innen und insbesondere auch von Minderheiten in den Gestaltungsprozess dazu beiträgt, die zu entwickelnde Technologie inklusiver zu machen. Leider entstehen die meisten Infrastrukturentwürfe und -entwicklungen ohne ausreichende Elemente der partizipativen Gestaltung. Als ein Beispiel kann das kürzlich gestartete Projekt GAIA-X genannt werden, das die Entwicklung eines europäischen Cloud-Ökosystems zum Ziel hat. Es wird betont, dass das Projekt eine Übersetzung europäischer Werte (wie Offenheit, fairer Wettbewerb und Menschenrechte) in moderne IT-Infrastrukturen fördert. Doch leider sind es meist nur Firmen, die den Aufbau gestalten und definieren. Dabei werden zwar die Unternehmen, die GAIA-X in Zukunft nutzen sollen, in die Gestaltung einbezogen, aber es wird versäumt, zivilgesellschaftliche Akteure oder die Öffentlichkeit ausreichend in ein Projekt einzubeziehen, das den Anspruch erhebt, grundlegend für die Zukunft der europäischen IT-Infrastrukturen zu sein.
Infrastrukturen sind das "Rückgrat" von Gesellschaften. Da moderne und demokratische Gesellschaften ohne inklusive Infrastrukturen, die Partizipation ermöglichen, nicht denkbar sind, müssen wir auch bei der Entwicklung grundlegender IT-Infrastrukturen Formen der partizipativen Gestaltung vorantreiben und stärken.
Partizipation von Frauen und Minderheiten bei der Entwicklung und Nutzung digitaler Technologien
Neben den technischen Grundlagen beschäftigt sich ein weiterer Aspekt der Partizipation mit der Frage, wer, insbesondere welche Gruppen und Gemeinschaften, bei der Entwicklung und Nutzung digitaler Technologien unterrepräsentiert sind. Die Partizipation von Frauen und Minderheiten (wie z.B. LGBTQI+, Menschen nicht-weißer Hautfarbe, Menschen mit Behinderung) in der IT-Branche stellt ein etabliertes Forschungsgebiet dar, das den wirtschaftlichen, moralischen und politischen Wert von Diversität in der IT anerkennt. Die Ungleichheit beim Zugang, der Nutzung und der Verteilung der Vorteile digitaler Technologien wurde als digitaler Gender-Gap bezeichnet. Dieser umfasst die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Hürden, welche den Zugang von Frauen und Minderheiten zu IT, deren Nutzung und Nutzen verhindern oder einschränken.
Obwohl digitale Technologien als vorteilhaft für Minderheiten in sozialer, kultureller, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht dargestellt werden, liegt der Schwerpunkt auf dem wirtschaftlichen Verständnis von Stärkung und Gleichberechtigung. Der „Business Case for Diversity“ argumentiert, dass von der Förderung und der Beteiligung von Frauen und Minderheiten in der IT-Arbeitswelt einige wirtschaftliche Vorteile erwartet werden. Diese Vorteile umfassen ein besseres Verständnis der Kund_innenbedürfnisse und die Gewinnung und Bindung von Talenten. Insbesondere in der IT-Branche, die bekanntermaßen einen chronischen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften aufweist, wird behauptet, dass diese Gruppen eine zusätzliche Quelle von Arbeitskräften darstellen. Zusammengenommen führen diese Vorteile zu gesteigerter Produktivität und mehr Gewinnen.
Dennoch sind Frauen und marginalisierte Gruppen auf dem IT-Arbeitsmarkt nach wie vor unterrepräsentiert. Laut dem kürzlich veröffentlichten Bericht Women in Tech Across the Globe: A Good Practice Guide for Companies (2020) von eco, dem Verband der deutschen Internetwirtschaft, sind nur 16,5 % der IT-Spezialisten in der Europäischen Union Frauen. Für die niedrigen Zahlen gibt es mehrere mögliche Gründe: (1) das „leaky pipeline“-Modell, das zur Erklärung der niedrigen Zahlen verwendet wird, (2) Die fehlende Berücksichtigung alternativer Lebenswege, (3) die Art und Weise, wie Geschlecht und Minderheiten definiert werden und (4) der Mangel an Wertschätzung für die Geschichte der Informatik. Diese Argumente werden im Folgenden näher erläutert.
Um die geringe Beteiligung von Frauen und Minderheiten in der akademischen und beruflichen IT-Welt zu beschreiben, wird die Metapher der „leaky pipeline“, also einer leckenden Leitung, verwendet. Diese Metapher basiert auf einem Modell eines linearen Bildungswegs, welcher scheinbar in einem sozialen Vakuum verläuft – so wie Wasser durch ein Rohr fließt. Jedes frühzeitige Ausscheiden von Wasser aus dem Rohr (oder von Frauen bzw. Minderheiten aus dem Bildungssystem) wird als Leck verstanden. Mit anderen Worten, das Pipeline-Modell ist problematisch, weil es keine alternativen Wege in Betracht zieht, die für die berufliche Entwicklung von Frauen charakteristisch sind. Darüber hinaus werden sie durch das vorherrschende und simplifizierende Bild von Informatik und IT, welches alleine Programmieren in den Vordergrund stellt, eingegrenzt. , So lässt es andere Arbeitsbereiche, in denen eine höhere Anzahl von Frauen und Minderheiten mit Computern lernen, forschen oder arbeiten (z.B. Kunst und Design, Biologie, Informations- und Bibliothekswissenschaften) außer Acht. Die meisten offiziellen Statistiken verstärken diese Marginalisierung und Abwertung anderer Disziplinen und die Beiträge von Frauen und Minderheiten. Dies macht ein alternatives Verständnis von Informatik und alternativen Formen der Teilhabe daran unsichtbar (Vitores & Gil-Juárez 2016; Metcalf 2010).
Die Art und Weise, wie Geschlecht und Minderheit definiert werden, trägt ebenfalls zu dieser Problematik bei. Länder, die nationale Statistiken zum Thema veröffentlichen, neigen zur Darstellung von biologischen und binären Kategorien, wobei die Möglichkeit für intersektionale Identitäten fehlt (Sey & Hafkin 2019). Vergleiche werden in der Regel zwischen der Gesamtzahl von Männern und der Gesamtzahl von Frauen gezogen, oder zwischen der weißen Bevölkerung und allen anderen Ethnien. Allenfalls können diese Erhebungen so weit gehen, Überschneidungen der Gruppenzugehörigkeit bei Geschlecht und Hautfarbe zu betrachten mit dem Augenmerk auf ‚Women of Color‘. Das Ergebnis einer solchen Verknüpfung ist jedoch, dass Technologie und Männlichkeit miteinander assoziiert werden, während jene, die sich nicht in den Zahlen widerspiegeln, marginalisiert werden (Metcalf 2010).
Die Forschung über Frauen und Minderheiten in der Geschichte der Informatik hat nun eine kritische Perspektive eingenommen, die die biologische Erklärung über ihre Unterrepräsentation problematisiert und die Namen und Schlüsselrollen von Frauen und Minderheiten in der Definition des Feldes selbst nennt. Auch Wissenschaftler_innen folgen vermehrt einer feministischen Perspektive, welche die gegenderten Prozesse, Informatik als männlich zu verstehen, kritisch betrachtet. Diese Prozesse werden verstanden als eine nicht-natürliche, geschlechtsspezifische Entwicklung, die dazu führt, dass Technologie mit bestimmten Eigenschaften, Fähigkeiten, Einstellungen und Bildern verknüpft wird, die der Männlichkeit zugeschrieben werden und Frauen und Minderheiten aus dem Fachgebiet drängen (Vitores & Gil-Juárez 2016).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Mangel an bedeutender Beteiligung von Frauen und Minderheiten an digitalen Technologien ein multikausales Phänomen darstellt. Um ihre Inklusion in der IT, sowie in einer demokratischen Gesellschaft, zu stärken, bedarf es einer umfassenden Herangehensweise, welche alle Gründe für die geringe Repräsentierung angeht, insbesondere die Verbindung zwischen digitalen Technologien und Männlichkeit. In diesem Sinne kann eine der vielen notwendigen Maßnahmen die Förderung von „geschützten Räumen“ sein. Dies können Gemeinschaften, Kollektive, Vereine und ähnliche Projekte sein, in denen Offenheit, Sicherheit, Ungestörtheit und Vertrauen vorherrschen, jede Art von Frage gestellt werden kann, der Austausch von Wissen, Erfahrung und Unterstützung üblich ist und – was am wichtigsten ist – Technik von männlichen Eigenschaften getrennt wird.
Fazit
Partizipation auf verschiedenen Ebenen (wir haben Perspektiven in Bezug auf Infrastruktur und kollektive Entscheidungen vorgestellt) ist ein Schlüsselaspekt, um öffentliche Entwicklungen und individuelle Entscheidungen so zu gestalten, dass bessere, inklusive und demokratischere Gesellschaften und Ergebnisse erzielt werden. Daher ist es unerlässlich, mehrere Ebenen der Partizipation zu betrachten, um umfassende und maßgeschneiderte Ansätze für den Abbau von Beteiligungshindernissen zu entwickeln. Wir haben gezeigt, warum es wünschenswert ist, zivilgesellschaftliche Akteure in die Entwicklung von (insbesondere öffentlichen) IT-Infrastrukturen einzubeziehen, und sichere Räume zu schaffen, in denen Frauen und Minderheiten eine andere Beziehung zur Technologie entwickeln können.
Literaturangaben
Barnes, M., Newman, J., & Sullivan, H. (2007). Power, participation and political renewal: Case studies in public participation. Bristol University Press. https://doi.org/10.2307/j.ctt9qgrqs
Geraghty, E. (2020). Women in Tech Across the Globe: A Good Practice Guide for Companies. A study by eco – Association of the Internet Industry. Retrieved from https://international.eco.de/presse/more-women-in-tech-a-serious-competitive-advantage-for-companies/
Metcalf, H. (2010). Stuck in the pipeline: A critical review of STEM workforce literature. InterActions: UCLA Journal of Education and Information Studies, 6(2). https://doi.org/10.5070/D462000681
Newman, J. & Clarke, J. (2018). The instabilities of expertise: remaking knowledge, power and politics in unsettled times. Innovation: The European Journal of Social Science Research, 31(1), 40-54. https://doi.org/10.1080/13511610.2017.1396887
OECD (2018). Bridging the Digital Gender Divide: Include, Upskill, Innovate. Retrieved from https://www.oecd.org/internet/bridging-the-digital-gender-divide.pdf
Patel, S. R., Bakken, S., & Ruland, C. (2008). Recent advances in shared decision making for mental health. Current Opinions in Psychiatry, 21(6), 606–612. https://doi.org/10.1097/YCO.0b013e32830eb6b4
Pateman, Carole (1970). Participation and Democratic Theory. Cambridge: Cambridge University Press.
Sey, A., & Hafkin, N. (Eds.). (2019). Taking Stock: Data and Evidence on Gender Equality in Digital Access, Skills, and Leadership. Macau: United Nations University. Retrieved from https://i.unu.edu/media/cs.unu.edu/attachment/4026/Taking-Stock-Report_18-00543-LowRes.pdf
Simonsen, J., & Robertson, T. (Eds). (2013). Routledge International Handbook of Participatory Design. New York: Routledge.
Vitores, A., & Gil-Juárez, A. (2016). The trouble with ‘women in computing’: a critical examination of the deployment of research on the gender gap in computer science. Journal of Gender Studies, 25(6), 666-680. https://doi.org/10.1080/09589236.2015.1087309