Politische Online-Partizipation – Wer nutzt die (neuen) Möglichkeiten?
Christina Eder und Christof Wolf, GESIS
Demokratie bedeutet „Herrschaft des Volkes“ und diese Herrschaft können die Bürgerinnen und Bürger durch eine ganze Reihe von Mitwirkungsmöglichkeiten wahrnehmen. Zentrales Recht ist die Teilnahme an Wahlen auf verschiedenen Staatsebenen, vom Gemeinderat bis zum Bundestag. Darüber hinaus lassen sich weitere Partizipationsformen aufzählen, beispielsweise Demonstrationen, Petitionen oder Parteiengagement. Ferner stehen, je nach Bundesland und Staatsebene, verschiedene direktdemokratische Beteiligungsformen wie Volksbegehren und Volksinitiativen, Bürgerbegehren, Bürgerhaushalte und vieles mehr zur Verfügung. Weitere Einflussmöglichkeiten haben Bürgerinnen und Bürger über den bewussten Verzicht auf bestimmte Produkte aus politischen Gründen oder das Verfassen von Leserbriefen. Die Palette dieser offline-Partizipationsformen ist also sehr breit und sie wird seit einigen Jahren durch weitere Formen ergänzt, die über das Internet laufen.
Bis in die späten 1990er-Jahre nutzte nur ein kleiner Teil der deutschen Bevölkerung das Internet1, doch mittlerweile verwendet die breite Bevölkerung das Medium beispielsweise zum Einkaufen, um Filme und Serien zu streamen oder zu chatten, für Behördengänge, die Wohnungssuche und die Reiseplanung. Und weil immer größere Teile der Bevölkerung online sind – egal ob nun am PC, dem Tablet oder dem Smartphone – steigen auch die Möglichkeiten, diese Technologie zu nutzen, um sich zu informieren und politisch einzubringen. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist der Wahlkampf von Barack Obama im Jahr 2008, der das Potential auch für den politischen Bereich offenbarte. Im letzten Jahrzehnt haben Politikerinnen, Politiker und Parteien, aber auch politische Organisationen und Institutionen, daher zunehmend dieses ‚Neuland‘ betreten und setzen beispielsweise soziale Medien gezielt zur Information und Kommunikation mit Wählerinnen und Wählern ein, gerade auch im Wahlkampf. Den Bürgerinnen und Bürgern steht ebenfalls ein breites Angebot an online-Beteiligungsformen zur Verfügung, von der direkten Kontaktaufnahme mit politischen Akteuren mittels digitaler Kanäle über die Unterzeichnung von online-Petitionen bis zum Liken, Teilen, Verfassen und Kommentieren von politischen Beiträgen und Blogs usw.
Mit dem Einzug des Internets auch in die politische Arena war von Anfang an die Hoffnung verbunden, dass angesichts sinkender Wahlbeteiligung und rückläufiger Parteimitgliederzahlen wieder mehr Menschen, gerade die Jüngeren, für die Politik gewonnen werden könnten (Kneuer und Datts 2020; Xenos et al. 2014). Denn die Möglichkeiten sind vielfältig, die Angebote oft niedrigschwellig und man muss nicht einmal das Haus verlassen bzw. zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein. Eine online-Petition kann man auch am Küchentisch unterzeichnen, der Tweet an den Wahlkreisabgeordneten kann in der Straßenbahn abgesetzt werden und der neuste Blog-Beitrag einer NGO ist nach Mitternacht genauso online abrufbar wie in der Mittagspause. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Welche dieser, inzwischen gar nicht mehr so neuen, online-Beteiligungsformen werden von den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland genutzt? Und wer sind die Nutzenden? Ist es tatsächlich die breite Gesellschaft oder sind es doch eher bestimmte Gruppen?
Um diese Fragen zu beantworten, verwenden wir den Nachwahlquerschnitt der German Longitudinal Election Study (GLES). Die Umfragedaten wurden in den Wochen nach der Bundestagswahl 2017 in persönlichen Interviews in ganz Deutschland erhoben, die Befragten stellen einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung dar. Die Studie eignet sich auch deshalb besonders gut, weil neben zahlreichen Fragen zu politischen Einstellungen und Präferenzen auch die politische Beteiligung online und offline sowie verschiedene soziodemographische Merkmale wie Alter, Geschlecht und Bildung abgefragt wurden.
Welche online-Beteiligungsformen werden nun also wie häufig verwendet? Aus Abbildung 1 lässt sich erkennen, dass die abgefragten online-Beteiligungsformen im Jahr 2017 sehr unterschiedlich oft genutzt wurden. Die am häufigsten angegebenen Partizipationsformen waren das Unterzeichnen von online-Petitionen und das Liken von politischen Beiträgen, dicht gefolgt vom Teilen politischer Beiträge. Diesen drei Beteiligungsmöglichkeiten ist gemein, dass sie für die Nutzerin wenig persönlichen Aufwand bedeuten – ein Like ist schnell vergeben, ein Link ohne viele Klicks einfach weitergeleitet – und über Plattformen wie change.org lassen sich online-Petitionen unkompliziert unterzeichnen. Die zweite Gruppe bilden Beteiligungsformen, die einen höheren zeitlichen Einsatz verlangen: das Posten und Kommentieren von politischen Beiträgen, das Kontaktieren von Politikerinnen und Politikern und die aktive Nutzung von staatlich bereitgestellten Bürgerbeteiligungs-Plattformen. Noch seltener schrieben die Befragten Leserbriefe zu politischen Themen oder eigene Blog-Beiträge, die vermutlich den höchsten persönlichen Einsatz aller abgefragten online-Beteiligungsformen verlangen (Abbildung 1).
Zum Vergleich: Die am häufigsten genannte offline-Partizipationsform2 war der Boykott von Produkten aus politischen Gründen (25%), gefolgt vom Unterzeichnen von Petitionen (18,6%). An dritter Stelle und mit deutlichem Abstand folgt die Teilnahme an Demonstrationen mit 7,9%, am seltensten gewählt wurde das Schreiben von Leserbriefen (2,6%). Für online und offline-Beteiligung scheint also zu gelten, dass diejenigen Formen, die weniger persönlichen Einsatz verlangen, häufiger genutzt werden.
Ein etablierter Ansatz der Wahl- und Beteiligungsforschung stellt einen Zusammenhang zwischen den Ressourcen, über die eine Person verfügt (u.a. Zeit, Bildung und persönliche Netzwerke), und ihrer Teilnahme am politischen Prozess her (Brady et al. 1995). Daher widmen wir uns nun der Frage, wer diese Möglichkeiten anwendet. Sind es eher Männer oder Frauen? Spielt der Bildungsgrad eine Rolle? Sind politisches Interesse oder Demokratiezufriedenheit entscheidend? Antworten gibt uns Tabelle 1, ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den online-Formen, der Produktboykott aus politischen Gründen wurde als häufigste offline-Form zum Vergleich einbezogen. In den Spalten finden sich die verschiedenen Partizipationsformen aus Abbildung 1 wieder, in den Zeilen verschiedene Merkmale und Einstellungen, in den Zellen jeweils eine Prozentangabe. So sind beispielsweise 57,7% der Befragten, die angaben schon mal eine online-Petition unterzeichnet zu haben, männlich, 73,1% der Befragten, die schon eine Petition online unterzeichnet haben, haben mindestens (Fach)Abitur, 44,1% der Unterzeichner waren jünger als 40 Jahre und so weiter. Bei der Interpretation der Zellenangaben muss beachtet werden, dass die Nutzung der Beteiligungsformen sehr unterschiedlich ist, wodurch sich unter anderem die sehr hohen und sehr niedrigen Prozentzahlen für Leserbriefe per E-Mail und Blogbeiträge erklären lassen.
Alle online-Beteiligungsformen werden häufiger von Männern als von Frauen genutzt, wobei der Unterschied bei den Formen, die eine aktive Meinungsäußerung enthalten (z.B. Blogbeitrag, Kommentar) noch deutlicher ist. Ein höherer Bildungsabschluss, politisches Interesse, Zufriedenheit mit der Demokratie, die Identifikation mit einer Partei und – am stärksten – internal efficacy3 wirken sich ebenfalls positiv auf die politische online-Beteiligung aus. Einzig das Alter führt zu uneindeutigen Ergebnissen: bei einigen Formen spielt es kaum eine Rolle, andere Möglichkeiten wie beispielsweise das Unterzeichnen von online-Petitionen oder der Kontakt zu Politikern per Internet scheinen vorrangig von den Älteren genutzt zu werden (Tabelle 1).
Insgesamt zeigen die Befragungsdaten, dass die Bürgerinnen und Bürger von den – mittlerweile gar nicht mehr so neuen – online-Beteiligungsformen durchaus Gebrauch machen, allerdings werden diese Partizipationsmöglichkeiten, wie auch die offline-Formen, unterschiedlich stark genutzt. Über alle Formen hinweg zeigt sich, dass – ähnlich wie für die offline-Möglichkeiten schon häufiger festgestellt – die Nutzenden eher hoch gebildet sind und dem politischen System eher nahestehen. Zwar hat sich mit dem Internet die Zahl der Partizipationsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger deutlich erweitert, bis zur vergangenen Bundestagswahl scheint das Internet die in es gesetzten Hoffnungen eines deutlichen Anstieg der politisch Partizipierenden und einer Ausweitung auf bisher eher unbeteiligte Gruppen jedoch (noch) nicht erfüllen zu können. In rund einem Jahr findet die nächste Bundestagswahl statt – vielleicht sehen wir dann Veränderungen.
1Im Jahr 1997 nutzen 7% der Bevölkerung das Internet mindestens selten, 2019 waren es 89% (http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/onlinenutzung/entwicklung-der-onlinenutzung/).
2Das Wählen als zentrales demokratisches Recht wird hier nicht betrachtet. Fast 90% der Befragten gaben an, an der Bundestagswahl 2017 teilgenommen zu haben.
3Die Überzeugung, Politik zu verstehen und kompetent genug zu sein, um sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen.
Referenzen:
Brady, Henry E., Sidney Verba, and Kay Lehman Schlozman (1995): “Beyond SES: A resource model of political participation”. American Political Science Review 89(2): 271-294.
Kneuer, Marianne, and Mario Datts (2020): “E-democracy and the matter of scale. Revisiting the democratic promises of the Internet in terms of the spatial dimension”. Politische Vierteljahresschrift 61(2): 285-308.
Roßteutscher, Sigrid, Rüdiger Schmitt-Beck, Harald Schoen, Bernhard Weßels, and Christof Wolf (2019): „Nachwahl-Querschnitt (GLES 2017)“. GESIS Datenarchiv, Köln. ZA6801 Datenfile Version 4.0.1, https://doi.org/10.4232/1.13235.
Xenos, Michael, Ariadne Vromen, and Brian D. Loader (2014): “‘The great equalizer? Patterns of social media use and youth political engagement in three advanced democracies’”. Information, Communication & Society 17(2): 151–167.